Kehrtwende in Bolivien

Von Ralf Leonhard · · 2020/Sep-Okt

(22.10.2020) Die Partei von Evo Morales, MAS, gewinnt die Parlaments- und Präsidentenwahlen und wird nach einem turbulenten Jahr zurück an die Macht kommen.

Von Ralf Leonhard

Boliviens Demokratie hat eine Bewährungsprobe bestanden. Bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen vom 18. Oktober haben sich Kandidat und Partei des vor einem Jahr abgesetzten Langzeitpräsidenten Evo Morales durchgesetzt. Bei knapp 95 Prozent ausgezählter Stimmen führte bei Redaktionsschluss Luis Arce Catacora von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) mit 54 Prozent und lag 25 Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten Carlos Mesa. Für einen Wahlsieg in der ersten Runde hätten bereits 10 Punkte Vorsprung gereicht. Mesa, Kandidat der Conciencia Ciudadana der Interimsregierung, kam auf rund 29 Prozent. Der gemäßigte Liberale gilt in erster Linie als Vertreter der Wirtschaftselite der Ostregionen des Andenstaates.

Mesa hat den Triumph von Arce früh anerkannt. Selbst der für Lateinamerika zuständige Unterstaatssekretär der USA, Michael Kozak, hat Arce im Namen von US-Präsident Donald Trump gratuliert und eine gedeihliche Zusammenarbeit in Aussicht gestellt, nachdem sich in Hochrechnungen ein klares Bild abzeichnete. Die diplomatischen Beziehungen der beiden Länder liegen auf Eis, seit Evo Morales 2008 Botschafter Philip Goldberg der Verschwörung bezichtigte und zur Persona non grata erklärte.

Klare Sache

Im Gegensatz zu den Wahlen vor einem Jahr verzichtete der Oberste Wahlrat diesmal auf eine auf den Wahlakten basierende Schnellauszählung und gibt nur gesicherte Auszählungsergebnisse bekannt. Die Diskrepanz zwischen der Schnellauszählung und der offiziellen Auszählung hatte damals Betrugsvorwürfe genährt, zu Straßenprotesten und letztlich zum erzwungenen Rücktritt von Evo Morales geführt.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte dabei eine unrühmliche Rolle gespielt. Obwohl sie jetzt eine Wahlbeobachtermission unter derselben personellen Führung schickte, fand sie diesmal kein Haar in der Suppe und bestätigte schnell den voraussichtlichen Wahlsieg von Arce – obwohl die auf 20 Prozent der Stimmen basierenden ersten offiziellen Ergebnisse Carlos Mesa mit 42 Prozent deutlich vor Arce mit 38 Prozent sahen.

Das ist damit zu erklären, dass zuerst die städtischen Wahlsprengel ausgezählt werden, wo die MAS weniger stark verankert ist. Dass selbst Interimspräsidentin Jeanine Áñez gratulierte, spricht dafür, dass die Nachwahlbefragungen ein realistisches Bild des voraussichtlichen Endergebnisses zeigen.

Diesem deutlichen Ergebnis schreiben Beobachter auch zu, dass sich nach dem Wahltag keine Unruhen zusammenbrauten. Auch die Anhänger des rechtsextremen Kandidaten Luis Fernando Camacho, der mit unter 17 Prozent keine Rolle spielt, mussten einsehen, dass die Kräfteverhältnisse sich während der einjährigen rechten Übergangsregierung nicht wesentlich verschoben haben.

Verkalkuliert

Morales hatte 2016 bei einer Volksbefragung über eine vierte Amtszeit eine Niederlage erlitten und nur durch einen umstrittenen Richterspruch nach mehr als zwölf Jahren Amtszeit ein von der Verfassung nicht vorgesehenes neuerliches Antreten durchgesetzt.

Seine hohe Popularität hatte dadurch und durch seinen zunehmend autoritären Regierungsstil stark abgenommen. Das begünstigte die putschartige Machtübernahme der Opposition nach dem Wahlchaos vom Oktober 2019.

Die De-facto-Regierung unter Jeanine Áñez dürfte aber die Stimmung in der Bevölkerung falsch eingeschätzt haben. Revanchistische Maßnahmen und die Verfolgung von Morales-AnhängerInnen schürten eine Bürgerkriegsstimmung.

Morales selbst floh ins Exil und bereitet jetzt in Argentinien seine Rückkehr vor. In seiner Ära wurde das Bruttoinlandsprodukt vervierfacht und durch Umverteilung des neuen Reichtums der Anteil der Armen von 60 auf 37 Prozent gedrückt. Vor allem aber fühlte sich die traditionell diskriminierte indigene Bevölkerungsmehrheit aufgewertet und anerkannt. Es entstand eine neue mestizische und indigene Mittelschicht.

Die neuen Machthaber versuchten das Rad der Geschichte zurückzudrehen, entfernten indigene Symbole aus dem öffentlichen Raum und schufen ein Klima der Diskriminierung und Einschüchterung.

Architekt des Wirtschaftswunders

Luis Arce, ein 57-jähriger Ökonom mit Diplomen aus Bolivien und England, gilt als Architekt des Wirtschaftswunders unter Morales. Als Wirtschafts- und Finanzminister hat er die Verstaatlichung der Bodenschätze durchgezogen und einen anhaltenden Wirtschaftsboom ausgelöst. Er hat den Ruf eines farblosen Technokraten und ist frei von der Hybris, die Morales nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht befallen hatte.

Die indigenen Völker, vor allem Aymara und Kichua, werden mit David Choquehuanca, dem ehemaligen Außenminister, als Vizepräsident vertreten sein. Eine Schlüsselrolle dürfte auch die Senatspräsidentin Eva Copa gespielt haben, die die Parlamentsfraktion der MAS zusammengehalten hat und trotz ständiger Schikanen und Anfeindungen durch das Regime die demokratischen Spielregeln im Kongress hochhielt. Man rechnet damit, dass Arce eine weniger polarisierende Politik als sein Mentor verfolgen wird.

Ralf Leonhard ist freier Journalist & Autor und schreibt seit über 35 Jahren für das Südwind-Magazin.

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